Trauma 3. Generation

Im heutigen Beitrag geht es um ein Erlebnis, das mich nachhaltig berührt hat.

Ich war gerade auf dem Heimweg, als ich an einer älteren Dame vorbeifuhr. Sie saß mit gesenktem Kopf auf einer Bank. Ich drehte noch einmal um und hielt bei ihr an. Ich fragte nach ihrem Wohlbefinden, und sie machte mir zu verstehen, dass ihr schwindlig sei. Also setzte ich mich neben sie und begann ein Gespräch. Nach und nach öffnete sie sich und erzählte von ihrem Sturz, dem Verbot, allein einkaufen zu gehen, und ihrem Schwindel.

Also nahm ich ihre Hand, und gemeinsam gingen wir zu ihr nach Hause. Dort stellte ich den Einkauf ab. Die Wohnung war so bunt, voller Erinnerungen und vieler kleiner Details. Mein hochsensibles Wesen war ganz verzückt von diesen Schätzen. Ich blieb noch ein wenig, weil meine feinen Antennen spürten, dass die Dame Redebedarf hatte. Und so fing sie an zu erzählen:

„Ich komme aus Schlesien, Nähe Breslau. Wir waren fünf Geschwister. Die Jüngste wurde nach dem Krieg, nach der Rückkehr meines Vaters, geboren. Meine Eltern waren 47, als die Kleine kam. Ich weiß noch, wie uns das Bündel mit dem für uns kleinen Wunder in die Arme gereicht wurde. Es war eine Freude nach alle dem Leid.

Mein Vater war in Odessa im Gefangenenlager und schlug sich – aufgrund der Lüge, seine Frau sei Jüdin – bettelnd durch, damit wir wenigstens ein bisschen zu essen hatten. Es kamen kleine Päckchen mit Graupen zu uns, damit Mutter einen Schleim daraus machen konnte. Nach dem Krieg kamen die Russen, und die Polen nahmen sich ihr Land zurück. Wir durften bleiben, mussten aber auf dem Land arbeiten.

Jedes Weizenkorn, das beim Pflügen verloren ging, nahmen wir heimlich mit nach Hause. Meine Mutter drehte das Korn durch den Fleischwolf, bis es Mehl wurde, und backte daraus Brot. Die Winter waren eisig, bis zu -35 Grad, und wir hatten keine dicken Wintersachen. Der Schnee war meterhoch und wir mussten immer wie durch Tunnel gehen. Es war so bitterkalt.

Meine Mutter machte sich immer hässlich und sobald alle wussten die Russen kommen, damit sie nicht vergewaltigt wurde. Die Russen waren schlimm. Wir flohen in die Kirche und versteckten uns. Gerade die jungen Mädchen. Sie überfielen die Mädchen und Frauen wie Tiere. Mehrere auf ein weibliches Geschöpf. Ach wie war das grausam. Die Polen waren sehr gemein, sie waren ja von den Deutschen so schrecklich behandelt worden und das wollten sie uns gleich tun. Es gab aber auch liebevolle Menschen unter ihnen.

Es war schwer, aber auf eine besondere Art auch schön. Mein Vater kam aus der Gefangenschaft, überall mit Läusen bedeckt – sogar in den Wimpern. Wir zogen ihm die Läuse aus den Wimpern, rasierten die Haare ab. Danach wurde er ausgezogen und in eine Zinnwanne gesetzt, Läusepulver auf dem Köper verteilt und gebadet. Mein Bruder nahm seine Kleidung, dicke Fellstiefel und eine typische russische Fellmütze – alles wurde draußen verbrannt.

Nach dem Krieg und meiner Hochzeit. Einem Haus mit Garten, in dem wir Seidenraupen züchteten , beschlossen mein Mann und ich, mit unserem 11 jährigen Sohn nach Deutschland zu fliehen. Zwei Stofftaschen und den Schultornister hatten wir dabei und fuhren mit dem Zug nach Wien. Dort gingen wir in die deutsche Botschaft und bekamen – durch Glück – direkt die Pässe. Dann ging es nach München. An Heiligabend zogen wir in diese Wohnung ein. Wir hatten nichts außer diesen zwei Taschen. Ich wurde gleich am nächsten Tag beim Metzger hier in der Nähe eingestellt. Ich bin nämlich gelernter Metzgerin und Schneiderin.

Durfte meinen Meister machen und habe 40 Jahre dort gearbeitet.

Mein Mann ist nun seit zwanzig Jahren tot. Meine Kinder sind erfolgreich, ich bin sogar Uroma. Ich hatte eine schlimme Krankheit und war monatelang in psychiatrischer Behandlung. Aber eines muss ich zu Deutschland sagen: Die Menschen sind wirklich eigen. Für alles braucht man einen Termin, und es gibt diese Distanz zwischen den Menschen. In Schlesien war alles offen, die Türen standen für jeden offen, und es wurde gefeiert, getanzt und Gemeinschaft gelebt. Dennoch bin ich sehr dankbar für mein Leben in Deutschland.“

Die Dame erzählte ihre Geschichte – wie es viele Geschichten aus der Nachkriegszeit gibt. Mein Großvater kam ebenfalls aus Schlesien und wurde vertrieben. Das stille Trauma, das er dadurch erlebte, war bei jedem Tag und jedem Besuch spürbar. Wir durchleben Generationstraumata und wissen oft nicht, dass wir sie selbst gar nicht erlebt haben – dass die Geschichte unserer Vorfahren ganze Erziehungen und Familienkonstrukte prägt.

Ich glaube, meine Generation ist die erste, die sich mit dem Thema befasst und es aufarbeitet – zumindest in Deutschland. Doch gerade entstehen neue Generationen mit Traumata: in der Ukraine oder in Gaza. Kleine Kinder , Frauen und Männer, ganze Familien erleben jeden Tag die Hölle und ihre Konsequenzen – und sie werden diese weitergeben. Es wird wieder Generationen dauern, bis dieses Trauma verarbeitet sein wird.

Eine weise Frau sagte einmal zu mir:

„Lena, du bist das Licht in deiner Familie. Du bist der Frieden und die Liebe. Du zerbrichst den Kreis.“

Damals wusste ich nicht, was sie meinte. Doch jetzt begreife ich es langsam. Meine Sensibilität macht mich stark. Ich brachte meinen Großvater zum Lachen, zum Weinen und zum Erzählen. Ich brachte Heilung – nur durch mein Sein und vielleicht auch ein wenig durch meinen ausgeprägten Charakter. Ich bin keinesfalls Mutter Teresa, aber ich bin der Meinung, dass wir Menschen uns gegenseitig heilen können. Und dass es immer wieder eine Generation gibt, die es anders macht und die Gesellschaft weiterentwickelt.

Ich bedanke mich für das Vertrauen der Dame mit ihren stolzen 93 Jahren. Sie ist eine der Zeitzeuginnen, die es bald nicht mehr geben wird. Sie ist die Erinnerung daran, dass wir eine andere Welt in den Händen halten – gemeinsam. Und sie war es, die meine eigenen Probleme plötzlich ganz klein erscheinen ließ. Sie ließ mich erinnern, wie dankbar wir doch für unser Leben sein dürfen. Dass wir auch Traumata erleben, aber die Chance haben, diese durch Hilfe zu heilen. Dass wir zwar in vielen Krisen stecken , aber noch jeden Tag Essen auf dem Tisch, Zugang zu medizinischer Versorgung und die Möglichkeit auf Freiheit haben. Zumindest in den weiten Teilen der westlichen Welt und vor allem in Deutschland. Viele Probleme sind selbstgemacht und können auch selber gelöst werden. Also ist das hier ein Appel für Dankbarkeit und Zufriedenheit mit dem was wir haben.

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Radikale Akzeptanz